Lotti, die Uhrmacherin by Marie von Ebner-Eschenbach

Lotti, die Uhrmacherin by Marie von Ebner-Eschenbach

Autor:Marie von Ebner-Eschenbach [Ebner-Eschenbach, Marie von]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Zeno.org
veröffentlicht: 2015-06-28T22:00:00+00:00


9

»Wohin geht denn unser Fräulein in solchem Staat?« sprach das Schneiderlein im vierten Stock des Nachbarhauses.

»Macht gewiß Visiten«, meinte Leopoldine und beugte sich recht weit aus dem Fenster, um Lotti nachzublicken, die soeben über den Platz schritt.[902]

Der Alte folgte dem Beispiel seiner Tochter und rief in Begeisterung: »Schau, schau! Es gibt doch nichts Schöneres als ein schwarzes Seidenkleid ... Aber Falten muß es haben, muß sich so gewiß ausbreiten – das ist anständig, das ist elegant!«

»Nein, elegant ist es just nicht!« erwiderte Leopoldine, ihr kleines, breites Näschen rümpfend.

»Nicht? Kannst du dir das Fräulein denken in so einer modernen Ofenröhre, wie du da hast?« rief der Schneider, indem er verächtlich auf das enge Kleid deutete, das seine Tochter trug.

»Sie nicht – sie freilich nicht –«

»Freilich nicht!« spottete der Vater ihr nach, »und hätte doch eher als tausend Jüngere die Gestalt dazu, ist ja gewachsen wie eine Tanne.«

»Nein, nein, sie soll nur bei ihren alten Moden bleiben, ihr steht's, ein anderes dürft's nicht tragen.«

»Und warum nicht? Weil es praktisch ist? Weil es geschmackvoll ist?« polterte der Alte, und der Zank zwischen den beiden entbrannte.

»Sagt, was Ihr wollt!« platzte das Mädchen plötzlich heraus, »wenn Ihr einmal tot seid, halte ich mir doch ein französisches Modejournal!«

»Dann kannst du's tun«, schrie der Vater gereizt, aber nicht gekränkt durch diese brutale Äußerung.

Seine Tochter biß sich auf die Lippen, aus ihren dunkeln Augen schoß ein Strahl innigster Liebe: »Deswegen braucht Ihr noch nicht zu sterben«, sprach sie.

»Fällt mir auch gar nicht ein.«

Und sie gingen an die Beendigung eines höchst unmodern gestreiften Sommerkleides.

Im gegenüberstehenden Hause hatten die Horatier im Fenster gelegen und Lotti, als sie vorüberkam, mit lautem Jubelgeschrei begrüßt. Auch die weiße Katze hatte ihr vom Dache herunter nachgeschaut und dabei ein derart gescheites Gesicht geschnitten, als ob sie allerlei interessante Dinge wüßte, von denen andere sterbliche Wesen niemals etwas erfahren.

Lotti aber schritt dahin, erfüllt von den verschiedenartigsten und dennoch so gleich mächtigen Empfindungen, daß sie nicht vermocht hätte zu sagen, welche die vorherrschende sei. Vielleicht war es ein geheimer Tatendrang – der Wunsch, Einfluß auf die Frau Halwigs zu gewinnen, und die Hoffnung, wenn das gelang, durch sie dem Selbstzerstörungswerk Einhalt zu[903] tun, in dem der Dichter begriffen war. Sollte jene aber nichts wissen von seinen schweren Seelenkämpfen? Sollte sie, wenn er auch schweigt – nichts davon erraten haben? Ist es nicht offenbarer Unverstand, sich einzubilden, daß eine Fremde kommen müsse, um der Gattin die Augen zu öffnen? Und dennoch – dennoch – trotz aller Einwendungen ihres Verstandes blieb Lotti von einer Ahnung durchdrungen, für die ihr jeder Grund, jeder Anhaltspunkt fehlte, der Ahnung: die Frau, die er liebt, weiß nichts von seinem inneren Leben.

Lotti war im neuen Stadtteil vor dem neuen Hause angekommen, das Halwig bewohnte. Nett wie ein Schächtelchen stand es da; alles darin frisch und blank und fast blendend vor Glanz und Farbenpracht, alles geschmackvoll und schön: die Malereien an den Wänden und am kuppelartigen Gewölbe des Stiegenhauses, die vergoldete Rampe, die schneeweißen Treppenstufen. Die einfache Lotti, die Freundin des Alten, sah sich



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